"Alles ganz normal, oder?" - Das Asperger-Syndrom integriert in unserem Leben

 

Ich musste schlucken als ich von ihm erfuhr, dass er fünf Kinder im Alter von 4-15 Jahren hat, alleinerziehender Papa ist. Aber das überraschende Wiedersehen nach rund 24 Jahren mit dem „komischen Typen von damals“, wie er mir als 18jährige im Gedächtnis geblieben war, bot noch viel viel mehr Überraschungen, die ich damals zu keinem Zeitpunkt erahnen konnte.

 

Im Gegensatz zu damals war ich nun, beim Wiedersehen, von ihm fasziniert – wie er mit seinen Kindern umging, wie er sich um sein Pferd kümmerte, wie er alles trotz Vollzeit-Berufstätigkeit organisiert hatte   und vor allem faszinierte mich seine Intelligenz. Unsere Gespräche hatten für mich ein Niveau, das mir gefiel. Und wir hatten viele gemeinsame Interessen. Es passte einfach und es passte so gut, dass ich das Gefühl hatte, wirklich richtig angekommen zu sein. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten und unendlich viele Diskrepanzen. Ich ließ Chaos in mein wohlstrukturiertes, geordnetes Leben, musste lernen mit täglich neuen Überraschungen zu leben, wurde spontan. Unsere Beziehung war geprägt von Höhen und Tiefen, ganz anders als ich es bislang kannte - bei den Tiefen wollte ich manchmal aufgeben, die Höhen liebte ich. Ich gab nicht auf – zu sehr war ich fasziniert von diesem Menschen mit dem mich so viel verband  und der mir immer wieder das Gefühl gab, ein ganz wichtiger Mensch in seinem Leben zu sein. So wie es auch seine Kinder für ihn waren und er für sie – und sie es auch für mich wurden. Sie waren auch der Grund dafür, dass wir wenig Zeit hatten, unsere gemeinsamen Interessen zu pflegen, aber das war nebensächlich. Ich gewöhnte mich an viele Situationen, für die ich erst mal keine Erklärung fand. Irgendwie war immer etwas anders als „im wirklichen Leben“, aber ich liebte dieses Leben voller Überraschungen mit einem Menschen, bei dem ich so sein konnte wie ich war. 

 

Dass genau dieses Leben eine Überraschung für mich bereithalten würde mit der ich niemals gerechnet hatte, konnte ich damals nicht wissen.

 

Alles begann mit einem Bild, das uns die Erzieherinnen im Kindergarten zeigten: Unser jüngster Sohn hatte etwas gezeichnet das weder sie noch ich erkannten „Das ist ein Gleisplan!“, rief mein Partner erfreut und sichtlich stolz auf das Werk seines Jüngsten. Es folgte eine nähere Erklärung zu dem, was zu sehen war – ein Gleisplan für eine Eisenbahnanlage, mein Partner ist leidenschaftlicher Modelleisenbahner. Wie immer begleitete ich ihn zu den pädagogischen Gesprächen – bei allen Kindern, egal ob Schule oder Kindergarten. „Du kannst das einfach besser als ich, stellst die richtigen Fragen.“

 

Unser Jüngster war damals ein auffälliges Kind, eckte überall an. Ich liebte den quirligen Lausbub, der äußerst kreativ durchs Leben ging aber auch immer wieder für Überraschungen sorgte - nicht immer positiv. In der ersten Klasse wurde die Diagnose ADHS gestellt, womit ich mir sehr schwer tat. Als er in der 2. Klasse war, dachte ich eher an Hochbegabung, nachdem er mit mir nach kurzer Erklärung aus allen Aufgaben im Kopf die Quadratwurzeln zog, als wir das Einmaleins übten. Er wollte auch immer alles wissen, wirklich allem auf den Grund gehen, fragte uns nicht nur Löcher in den Bauch sondern richtige Krater. Gerne übergab ich dann „an Papa“, der mit einer Seelenruhe alles erklärte und auf alles eine Antwort hatte. Trotz diagnostiziertem ADHS  konnte er sich gut konzentrieren wenn ihn etwas faszinierte, dann war er „wie unter einer Glocke“, fand darin absolut innere Ruhe. Wirkliche Freunde hatte er keine, hatte Probleme, mit anderen Kindern angemessen zu interagieren. Mein Gefühl sagte mir, dass da was anderes ist, aber ich konnte es nicht greifen.

 

Im Gespräch mit einer Kollegin – wir tauschten uns mal wieder über die „Unarten“ unserer Kinder aus – erzählte ich von dem  vor einigen Jahren angefertigten Gleisplan-Bild und meiner  Ratlosigkeit. Sie, Mama eines erwachsenen Autisten, erwähnte zum ersten Mal den Begriff Autismus. Ja, ich wusste einiges über Autismus – aber unser Kind doch nicht!

 

Die Neugierde siegte, zu Hause surfte ich intensiv im Internet, las viel über Autismus und stieß schnell auf das Asperger-Syndrom – erkannte unseren kleinen Wirbelwind in den genannten Punkten. Ich konnte es nicht glauben und las und las und las. Aber es war eindeutig. Fast allen beschriebenen Merkmalen konnte ich zustimmen. Es war eindeutig  – wir mussten der Sache nachgehen.

 

Wie immer besprach ich alles, was mir auf dem Herzen lag, mit meinem Partner. Aber wie sollte ich ihm das beibringen? Sein jüngstes Kind Autist? Da musste ich vielleicht doch vorsichtig vorgehen… . In einer guten Minute zeigte ich ihm die Kriterien und fragte ihn, ob er unseren Wirbelwind darin wiedererkennt. Interessiert las er und konnte gar nicht aufhören, scrollte die Seite hoch. „Nicht nur ihn, ich erkenne mich auch darin wieder. “  Nüchtern und sachlich die Antwort, so wie ich ihn kannte. „Ach was, du doch nicht, du bist völlig normal! “ Lehrbuchhaft, meine Abwehrreaktion – heute lache ich darüber.

 

Wir gingen Schritt für Schritt vor, gemeinsam, so wie immer. Ein Gespräch mit dem Klassenlehrer und der Mathelehrerin, in dem ich gezielte Fragen stellte, bestärkten uns darin, diesen diagnostischen Weg zu gehen. Es erwies sich als nicht so einfach, einen Arzt oder Psychologen zu bekommen, der die Diagnose stellen kann und wieder waren wir mit Fehldiagosen konfrontiert. Ich kämpfte weiter und bekam schneller als gedacht einen Termin in der Autismusambulanz  der Uniklinik Homburg. Trotzdem mussten wir vier Monate warten. Ich las viel im Internet über das Asperger-Syndrom, konnte mich nahezu ein Jahr darauf vorbereiten  bis wir nach mehreren Terminen das Ergebnis bekamen: „Ja, ihr Sohn hat das Asperger-Syndrom! ADHS kann jedoch ausgeschlossen werden“.  Mein Partner fühlte sich bestätigt, für ihn war die Welt jetzt in Ordnung. Ich zog mich in einem Moment, wo ich alleine war, zurück, ließ mich auf die Couch fallen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Als keine mehr da waren, mein Gesicht geflutet und ich so richtig leergeheult war beschloss ich, nach vorne zu schauen. Jetzt, wo wir endlich wussten was los war und die richtigen Weichen stellen konnten!

 

Ich hatte bei meinem Partner das Gefühl, dass die Diagnose bei unserem Jüngsten für ihn nur eine Bestätigung war – eine Erklärung für das, was bislang unerklärlich war. Und er ließ nicht locker, wollte es auch bei sich wissen. Und auch bei unserer zweitältesten Tochter. Denn auch bei ihr hatten wir, als sie 13 war, Rat bei einem Psychologen gesucht der jedoch meinte, dass alles völlig ok sei. Und es konnte doch auch nicht sein, dass sowohl mein Partner als auch zwei seiner Kinder Asperger-Autisten waren. Der Gedanke war zu diesem Zeitpunkt äussert unwirklich für mich.

 

Das war vor zwei Jahren… Mittlerweile kann ich darüber nur schmunzeln. „Full House“ nenne ich meine Familie liebevoll  - wie die Würfelkombination beim Kniffel über die man sich so freut, wenn sie fällt, weil sie viele Punkte bringt -  fünf Würfel,  jeweils zwei bzw. drei mit der gleichen Augenanzahl. 

 

Und der Vergleich passt, wenn ich mir meine „Wahl-Familie“ so anschaue – alle Kinder haben optisch was vom Papa, aber auch von ihrer Mama.  Aber besonders ähnlich sehen ihm die zwei, die genau wie er Asperger-Autisten sind. Die anderen drei haben auch ganz viel von ihrer Mama und deren Familie. Ja die Genetik….

 

Meine Genetik war da nicht gefragt, aber ein unendlicher Wissensdurst. Unzählige Bücher und Berichte über das Asperger-Syndrom habe ich seitdem gelesen, Vorträge besucht und auch durch unsere  Selbsthilfegruppe, den Stammtisch und die Naturunternehmungen viele Autisten und ihre Angehörigen kennen gelernt. Es sind wunderschöne Bekanntschaften und Freundschaften entstanden die ich nicht missen möchte. Gegenseitiger Austausch und Unterstützung stehen im Vordergrund, gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen verbinden. Hier versteht jeder, von was man redet, keiner fühlt sich ausgegrenzt. Unsere mittlerweile erwachsene Tochter hat erfahren können dass sie kein Exot ist und andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dies festzustellen war für sie genauso erleichternd wie die Diagnose.

 

Abgesehen davon, dass wir alle nun für Vieles eine Erklärung haben ist für mich das Schönste, daß ich meinen Partner nochmals ganz neu erfahren habe mit Eigenarten, die ich ja schon kannte aber nun anders bewerte. Vieles war für mich in die „typisch-Mann-Schublade“ gesteckt worden, aber nicht alles gehörte da hin. Ich habe es dort wieder rausgeholt und neu bewertet. Ich schmunzele nun über Dinge, über die ich mich früher aufgeregt habe, habe gelernt manche Dinge zu organisieren und zu planen weil es sonst keiner tut und es im Chaos enden würde. Ich habe Verständnis für Gegebenheiten entwickelt die mich früher verzweifeln ließen. Das gibt es heute übrigens auch noch, aber anders. Weil ich mir dann immer wieder ins Gedächtnis rufe was ursächlich ist. Trotzdem stolpere ich natürlich auch hin und wieder darüber, aber mit einem Schmunzeln.

 

Eine Partnerschaft mit einem Asperger-Autisten ist vielleicht anders als mit einem neurotypischen Partner, aber andererseits auch wieder nicht. Jeder Mensch hat Schwächen und Stärken, Ecken und  Kanten. Wir bereichern uns gegenseitig und ergänzen uns prächtig. Wenn mich meine Emotionen in zwischenmenschlichen Situationen negativ überwältigen weiß ich, an wen ich mich wenden muss. Seine genetisch bedingte logische Herangehensweise erdet mich wieder, immer und immer wieder.  Und wenn es zu geplanten Interaktionen mit Außenstehenden kommt,  die in ihm Unsicherheit hervorrufen, bin ich aktiv. So brachte es mein Partner kürzlich mit einem Satz auf den Punkt: „Wenn es menschelt, übernimmst du!“ Für uns ist genau das völlig normal.

 

 

 

Autorin bekannt, aber im Interesse der Angehörigen namentlich nicht genannt